„Dr. Hermann Hölscher – Engel von Sibirien und Arzt in Recke“.

„Da hör mal gut zu!“. Ausnahmsweise bekommt der Neuntklässler an diesem Tag von Oma noch einen eindringlichen Rat mit in die Schule. „Auf Dr. Hölscher da kannst Du wohl hören, der hat etwas zu sagen! “ Die 85-Jährige auf dem großen Hof in Recke gibt ihrem Enkel Markus an diesem Schulmorgen am Ende der achtziger Jahre ganz ausdrücklich diesen guten Rat mit. Sie hatte erfahren, dass der langjährige Landarzt in Recke, Dr. Hermann Hölscher, in die Klasse ihres Enkels in das Fürstenberg-Gymnasium kommen würde, um mit den Schülern des Religionsunterrichtes über das Thema Sterbehilfe zu sprechen. Markus und seine Mitschülerinnen und Mitschüler wissen, Dr. Hölscher ist eine Autorität in Recke. Seine Praxis hat er längst in jüngere Hände gelegt, das Wort des bald Achtzigjährigen das gilt in Recke und Umgebung. Er ist nach knapp 30 Jahren als Knappschafts- und Landarzt eben eine Autoritätsperson. Das hat sich im Vorfeld des Gesprächs im Klassenraum herumgesprochen. „Niemand wollte sterben! Ich bin bald 50 Jahre als Arzt tätig! Das kann ich Euch sagen!“ Dr. Hölscher antwortete den Schülern kurz und bestimmt auf ihre höflichen und sehr vorsichtig formulierten Fragen nach einer Sterbehilfe, nach einer Erlösung bei unheilbaren Krankheiten. „Alle Patienten in Recke und in Russland wollten leben, das ist meine Erfahrung als Arzt, alle haben gesagt, helfen Sie mir! “ Die Schüler müssen der ruhig und bestimmt vorgetragenen Überzeugung des erfahrenen Arztes glauben. „Niemand hat gesagt, hilf mir sterben, alle wollten, dass ich ihnen helfe, weiterzuleben! “ Der Arzt erzählt dann von nächtlichen Hausbesuchen in Recke, von seiner Arbeit als Arzt im Feldlazarett und im Gefangenenlager. „Viele waren verzweifelt, ich sollte ihre Schmerzen lindern, aber leben wollten sie alle, vielen von ihnen konnte ich helfen. “ Der rüstige Pensionär, der älter war als die Großväter der meisten Schüler, überzeugt in seiner ruhigen und bestimmten Art. Sie spürten noch immer, er war oft um Rat gefragt worden, er hatte Entscheidungen gefällt, Anweisungen gegeben und er war die anerkannte Instanz in Recke und Umgebung. Des Rates der Großmutter hätte es gar nicht bedurft, Dr. Hölscher war jemand, dem man zuhören musste, der auch für Jugendliche glaubwürdig war. Er hatte gelebt, was er sagte. Ob im für die Schüler fernen Odessa oder zuhause, als ihre Großeltern in den besten Jahren waren. Dabei war das kein abstoßend-fernes „Wir früher “, eher ein „So war es und das gilt! “ Zum Thema Euthanasie und Sterbehilfe waren die Schülerinnen und Schüler am Ende des Gesprächs eher beeindruckt von der Begegnung mit einem Arzt und seinem menschenfreundlichen Handeln, als das sie neues Wissen erlernt hätten. Die Praxis hatte sie überzeugt, die Theorie hätte sie nie so sehr berühren können! Dr. Hermann Hölscher konnte auf ein langes, vielgestaltiges Leben im Dienste der Medizin zurückblicken: Immer bewegt von dem Wunsch, als Arzt den Menschen zum Leben helfen zu können. Er wuchs in Belecke an der Möhne im Sauerland heran, besuchte die höhere Schule in Warstein und machte das Abitur an der Aufbauschule in Rüthen. Vor dem Abitur stand für ihn fest, er will Medizin studieren, er muss sein Studium finanzieren, auch mit Arbeit im Straßenbau. Er wurde Chirurg und Assistenzarzt an einem Knappschaftskrankenhaus. Von 1941 an erlebte er den Krieg vier Jahre als Arzt an der Ostfront. Als Stabsarzt wurde er Chef des einzigen motorisierten chirurgischen Zuges. Unzählige Soldaten behandelte er unter schwierigsten Bedingungen. Er wird zum Spezialisten für Bauchoperationen. Bei Budapest geriet er 1945 in Kriegsgefangenschaft. In Odessa setzte er als Chefarzt des Kriegsgefangenlagers seine ärztliche Tätigkeit fort. Sein Ansehen wird vielleicht dadurch deutlich, dass er im Gegensatz zu den anderen 9000 Gefangenen Haupt und Barthaare tragen durfte. Von Odessa bringt ihn der russische Geheimdienst in das Regimelager 39, ein Schweigelager, in Dscheskasgan (http://www.gulag.memorial.de/lager.php?lag=88) in der Wüste Beta-Pak-Dela in Zentralasien. Die Gefangenen durften keine Post absenden und keine Post empfangen. Die kalten Winde des Himalaya lassen die Temperaturen von 60 Grad plus am Tage bis 60 Grad minus in den Nächten schwanken. „Onkel Hermann“ nennen ihn die Gefangenen. Als Arzt wirkt er in dem Lager und auch für die Zivilbevölkerung im weiten Umkreis. Mehr als 60 Kilometer kommen die Menschen mit Kamelen heran, um die russischen Wachen dazu zu bringen, ihnen die Behandlung durch den Arzt unter den Gefangenen zu ermöglichen. „Der zweite Engel von Sibirien “ – so nennen ihn die Mitgefangenen und die Einwohner der Umgegend bewundernd, die ihm Gesundheit und Überleben verdanken, in Anlehnung an Elsa-Brandström, den Engel von Sibirien aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Die Mittel sind mehr als bescheiden, viele ärztliche Geräte müssen improvisiert und wirklich erst noch gebastelt werden. Sprichwörtlich werden die Zangen, mit denen Dr. Hölscher Zähne gezogen hat. Aber über Wundbehandlung hinaus organisierte der Arzt immer neue Aktionen, um die Versorgung zu verbessern. Heuschreckenschwärme, in den Ziegelöfen geröstet, halfen ebenso zum Überleben wie die Mäuse, die als Zusatzrationen dienten. Unterernährung ist keine Krankheit, aber es war Hauptproblem des Lagers. Mut zum Leben gab er uns, erzählten die Überlebenden später, Energie zum Ausharren! Dr. Hölscher organisierte Gottesdienste, erfand Spiele und initiierte Vortragsabende, um die Lagerbedingungen zu verbessern und den Überlebenswillen zu stärken. Mehr als nur ärztliche Kunst war gefragt! Die letzten Monate der Gefangenschaft arbeitete er in dem Straflager Karaganda (http://www.gulag.memorial.de/lager.php?lag=191). 1950 kehrte er in seine Heimat zurück. Bundeskanzler Konrad Adenauer empfing ihn persönlich. Ein Ausdruck des Dankes für den Einsatz für die Menschen, die oft bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit ging.
Von 1951 bis 1953 war er Oberarzt im Knappschaftskrankenhaus in Bochum- Langendreer. Von 1953 bis 1979 arbeitete er in Recke als Knappschaftsarzt mit Belegbetten im St. Benediktus – Hospital. „Wenn er in seiner ruhigen und bestimmten Art zu den Kranken spricht, wirkt das wie eine Beruhigungsspritze “, an diesen häufig benutzten Satz erinnern sich die Söhne und Enkel der Patienten von damals noch heute. Auch an den Spitznamen „Papa Hölscher!“ Hubert Kreft, Pfarrer in Recke von 1968 bis 1993, hebt im Rückblick besonders hervor: „Er kannte alle seine Patienten, wenn er durch die Tür hereinkam, dann wusste er, was sie hatten.“ Er lobt das Engagement des Arztes gleich in mehrfacher Hinsicht. „Dr. Hölscher war bereit, über sein Fach zu sprechen, er ließ sich einladen zu den Seniorenrunden und zur Kolpingfamilie und zur KAB.“ Zu jedem Vortragsthema, das im weitesten Sinne mit der Gesunderhaltung des Menschen zu tun hatte, habe er sich einladen lassen. „Und dem St. Benediktus – Hospital war er sehr verbunden“, betont Pfarrer Kreft bei seinem Rückblick. Im Kuratorium sei er über Jahre der Vertreter der Ärzte gewesen und habe sehr ausgleichend gewirkt. „Ganz besonders hat er sich für den Erhalt des Krankenhauses eingesetzt “, stellt der ehemalige Pfarrer heraus. „Versöhnung – das war immer sein Anliegen, er fand am Volkstrauertag stets die richtigen Worte, er blickte nach vorn und sah manches anders als andere, aber sein Standpunkt wurde akzeptiert,“ erzählt Wolfgang Büscher, wenn er zurückschaut und sich erinnert. Und wie vielen einzelnen Rat suchenden Menschen er in Fragen der Rente und Anerkennung der Vertreibung geholfen habe, das wolle er gar nicht schätzen. Dr. Hölscher sei einfach jemand gewesen, den man auf viele Dinge ansprechen konnte. „Alle fühlten sich wohl bei ihm, er war immer ausgeglichen, ein versöhnender Menschen “, so fasst er seine Beobachtungen im Rückblick zusammen. Ob bei der Feuerwehr oder bei Erste-Hilfe-Kursen für alle, es sei einfach amüsant gewesen, wie er die Inhalte herübergebracht habe. Für ihn war Vorbeugung vor Infektionen und Krankheiten schon ein Thema, als noch niemand davon sprach. Dabei sei der Hobby-Bergsteiger ein stiller und bescheidener Mensch gewesen, der sich selbst immer im Hintergrund gehalten habe. Sein täglicher und nächtlicher Einsatz, seine Sorge für seine Patienten hatten ihm als langjährigen Arzt den Ruf eingebracht, der die 85-jährige Großmutter noch ein Jahrzehnt später dazu antrieb, ihrem Enkel Markus zu raten, dem erfahrenen Arzt gut zuzuhören. 1980 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Japanische Zeitungsreporter kamen nach Recke. Sie hatten gehört von der Dankbarkeit, für das, was der Arzt in Gefangenenlager für die japanischen Kriegsgefangenen getan hatte. Das Deutsche Rote Kreuz verlieh ihm 1986 die Verdienstmedaille in Silber des Landesverbandes Westfalen-Lippe und der Ortsverein Recke ehrte ihn für seine 60-jährige Mitgliedschaft und ernannte ihn 1994 zum Ehrenmitglied.

Dr. Hermann Hölscher – Lebenslauf:
1912 geboren in Belecke an der Möhne

1938 medizinisches Staatsexamen
1941 Chirurg an der Ostfront
1945 Chefarzt im Kriegsgefangenenlager Odessa
Arzt im „Schweigelager “ in Zentralasien und Bis 1950 Arzt im Straflager Karaganda
1951 -1953 Oberarzt im Knappschaftskrankenhaus Bochum-Langendreer
1953 – 1979 Knappschaftsarzt in Recke
Nach 1979 Gutachter im Auftrag der Knappschaft
8.8.1995 verstorben und beerdigt in Recke
Dr. Norbert Hecker Auszug aus: Unser Kreis 2003, Jahrbuch des Kreises Steinfurt, S.231 – 234